Mit seiner Expertise an der Schnittstelle zwischen Technologie, Energie und Innovation klärt Christoph Nettesheim wichtige Fragen über die Bedeutung von elektrischem Strom und das Bewusstsein im Umgang damit.

Jonathan Winzek: Eine repräsentative Umfrage aus 2018 ergab, dass etwa 8 von 10 Deutschen nicht wissen, wie viel Strom sie im Monat verbrauchen. Der Trend zeigt jedoch, dass die Menschen in der westlichen Gesellschaft heutzutage bewusster im Umgang mit Nachhaltigkeit sind und sich auch den Auswirkungen auf die Umwelt bewusst werden. Was bedeutet Strom für unsere Zukunft? Welche Rolle spielen dabei erneuerbare Energiequellen?

Christoph Nettesheim: Das ist einer der wichtigsten Fragen überhaupt. Strom wird in den unterschiedlichen Trägern von Energie, sei es Öl, Kohle, Gas oder Atomenergie, einen immer größeren Anteil spielen. Insbesondere was heute noch über fossile Energiequellen läuft, muss in Zukunft aus erneuerbaren Energiequellen hergestellt und dann als Strom transportiert und gespeichert werden.Das heißt, der größte Teil unseres Energieverbrauchs in der Zukunft wird durch Strom erzeugt. Von Autos, über Segelbootmotoren, zum Herd in der Küche, nur um ein paar Beispiele zu nennen. Es wird bestimmte Prozesse in der verarbeitenden Industrie geben, bei der man zum Beispiel mit Wasserstoff arbeiten wird. Denn bei Strom gibt es insbesondere die Problematik, dass man Batterien oder andere Speichermedien entwickeln muss. Bei Energiebewirtschaftung ist immer die Frage WO muss WAS, WIE gespeichert und transportiert werden.

JW: Die Speicherung von Strom ist also eine große Herausforderung - nicht so sehr die Erzeugung von Körperkraft?

CN: Genau. Für die Erzeugung gibt es Technologien, die sich sehr schnell weiterentwickeln. Die Effizienz von Photovoltaik oder die Windenergie sind als Beispiele zu nennen. Die Speicherung ist im Moment noch die größere Problematik. Denn beispielsweise ist in Deutschland die Waage zwischen Verbrauch und Erzeugung nicht ausgeglichen – im Norden wird der meiste Strom erzeugt, im Süden wird er verbraucht. Die Konsequenz ist ein komplexes System des Baus von Stromleitungen.

JW: Wird Strom eines Tages der einzige Energieträger sein? Wann könnte das der Fall sein?

CN: Das glaube ich nicht. Weil, wie schon erwähnt, Wasserstoff für viele Prozesse relevant sein wird. Jedoch wird das sicherlich bei vielen Dingen in der Mobilität so sein.

JW: Was muss passieren, damit sich europäische Städte schnell und reibungslos an die Veränderungen, die durch die Energiewende hervorgerufen werden, anpassen? Wie wird sie unseren Alltag verändern?

CN:
(denkt nach und fasst sich ans Kinn) Das ist eine gute Frage. Die Städte haben die Komplexität der Transformation noch vor sich. Ich persönlich glaube, dass es drei verschiedene Hebel sind, die die Städte anwenden müssen. Erstens: Zuerst sollte man die Energiequellen anpassen, sodass beispielsweise nur noch Elektroautos in Städten zugelassen sind oder energieeffiziente Gebäude gebaut werden. Dann muss zweitens die Infrastruktur verändert werden, in Bezug auf den öffentlichen Nahverkehr zum Beispiel oder auch die Nahrung der Bevölkerung in einer Stadt. Und als dritten und schwierigsten Hebel, muss man versuchen, die Menschen zu beeinflussen. Es muss sich etwas in deren Verhalten ändern und das langfristig, was normalerweise sehr lange dauert, bis man dahin kommt. Daher ist es wichtig, dass man ihnen die Positivität der neuen Verhaltensweisen deutlich vorführt. Ihnen zeigt, dass ihre Lebensqualität dadurch steigt. Erst, wenn sie eine Regelmäßigkeit erreichen, dann hat es die Stadt geschafft, dass Verhaltensweisen angenommen und umgesetzt werden.  

JW: Sind für diese Art von Veränderung Regulierungen von oben notwendig?

CN: Ohne solche Regulierungen wird es nicht gehen. Sie setzen beispielsweise fest, wie unterschiedlich die Preise von Sachen sind. Und wenn Autofahren billiger ist, als einen Zug zu nehmen, dann hat das Auswirkungen auf die Verhaltensweise der Menschen. Es ist vor allem wichtig, das zu regulieren, was es sie persönlich kostet.  

JW: Wie würde das in Bezug auf Strom und auf Bewusstsein darüber aussehen? Es gibt ja heutzutage auf den meisten elektronischen Produkten Labels, die auf die Effizienz verweisen.

CN:
Der Stromverbrauch ist schwer greifbar, weil er eine ziemlich komplexe Sache ist. Wenn die Stromrechnung kommt, wissen die meisten nicht einmal, was eine Kilowattstunde bedeutet. Das bedeutet, dass ihnen die Labels für die Verhältnisse nicht weiterhelfen; sie können nicht abschätzen, wie viel tatsächlich durch ein anderes Produkt eingespart werden könnte. Genauso wenig können viele Verbraucher*Innen begreifen, wie viel Strom fließt, wenn sie über Nacht das Licht anlassen, und wie viel es auf ihrer Rechnung am Ende ausmacht. Die Hürde, sich damit auseinanderzusetzen, ist zu groß, weswegen sie das Nicht-Wissen akzeptieren. Es gibt Systeme in der Schweiz, die zeigen, dass man zum Nachdenken anregen kann, wenn man Möglichkeiten Geld zu sparen anbietet. Um Bewusstsein zu schaffen, wäre auch eine App hilfreich, die auf den Stromverbrauch bzw. CO2Gehalt beispielsweise nach dem Kauf eines Kilos Fleisch, einer Flugreise, einer Autofahrt usw. aufmerksam macht.  

JW: Wessen Verantwortung ist es jetzt, für diese Veränderung zu sorgen? Ist es die der Wirtschaft, der Politik oder des Individuums?

CN: Zuerst sollte sich jeder selbst an die Nase greifen und schauen: Was kann ich eigentlich machen? Ich glaube, wenn jeder in seinem Umfeld versucht, so viel wie möglich zu machen, kommen wir schon einen guten Schritt voran. Ich weiß außerdem aus wirtschaftlichen Kreisen, dass viele Unternehmer*Innen auch sehr stark darauf fokussieren, dass Individuen ihr Verhalten ändern.  Dennoch weiß ich ebenso, aus der Erfahrung, die ich in den letzten Jahren mit dem World Wildlife Fund und anderen NGOs gemacht habe, dass man sehr skeptisch bezüglich der Fähigkeiten der Individuen ist und die Macht der Unternehmen als viel größer anerkennt. Daher plädiere ich für eine Kombination aus beidem. Die wichtigsten Punkte sind eigentlich Eigeninitiative und Kompromissbereitschaft.

JW: Unsere Vision lautet: Die technischen Installationen, die überall in der Stadt zu finden sind, sollen die Bevölkerung spielerisch auf Stromgewinnung aufmerksam machen und somit Bewusstsein schaffen. Die individuellen Hologramme, sowie die Bezirkstürme zeigen dann jeweils die Stromproduktion an, die für alle sichtbar ist. Es soll das Gemeinschaftsgefühl stärken, denn Ziel ist es, gemeinsam Energie zu erzeugen, Energie zu sparen und energieeffizienter sein. Wie, vermutest du, könnten solche Installationen bei den Menschen ankommen?

CN: Das Wort Allgegenwärtigkeit ist sehr wichtig, da - wie schon vorher erwähnt -  Verhaltensänderungen nie passieren, wenn man nur einmal irgendwo eine neue Sache lernt. Damit man sein Verhalten ändert, muss es zu einer Regelmäßigkeit, einer Repetition kommen, sodass man wirklich anfängt, sich selbst zu verändern. Die Anzeige durch die Hologramme sind eine sehr gute Botschaft an alle Menschen in der Stadt, die als Motivation dienen kann, die Zahl weiter zu erhöhen. Das Hologramm muss nur selbst auch betrieben werden, was bei Verweigerung der Bevölkerung zu Problemen führen könnte. Wichtig ist, dass es auf einem Belohnungssystem beruht. Solange die Produktion von Strom in welcher Form auch immer belohnt wird, kann es nur ein Mehrwert sein.

JW: Was sind deine Hoffnungen in Bezug auf den Stromkonsum in 30 Jahren, was sind deine Zweifel?

CN: Also, ich bin, was die Zivilisation in Europa anbelangt, ziemlich positiv gestimmt. Eine gesamte Generation wird bis dahin vorüberziehen und der Wandel, den wir im Moment vollziehen, wird sich bis dahin noch stärken. Wir werden immer mehr auf unseren Stromverbrauch achten, auf erneuerbare Energien umsteigen usw. Ich glaube, in diesem langen Zeitraum passieren massive Veränderungen, wir werden mit Sicherheit die Hälfte des Stroms einsparen können. Wir in der westlichen Welt müssen ein gutes Vorbild sein und zeigen, wie fantastisch und mit welch hoher Lebensqualität man leben kann, auch mit geringem Energieverbrauch.