Martin Strele ist der Mitbegründer von dem Projekt„ein guter Tag hat 100 Punkte“. Die App ist ein Hilfsmittel für einen bewussten Umgang mit dem eigenen Lebensstil, um im Dschungel von Informationen und Wechselbeziehungen, ein verantwortungsvolles Leben zu führen und die eigene Lebensqualität zu steigern. Sie hilft einem dabei seine Lebensgewohnheiten bei Konsum, Ernährung und Mobilität in ein Verhältnis eines für alle Menschen tragfähigen Lebensstandards zu bringen.
Interview mit Martin Strele lesenClaudia Mäser führt zusammen mit Markus Ivany seit November 2017 den Unverpacktladen LIEBER OHNE im 6. Bezirk. Sie bieten regionale Bio-Lebensmittel und andere ökologisch wertvolle Produkte an. Viele davon unverpackt, lose oder in Pfandbehältern. Gekocht wird bei LIEBER OHNE auch. Es gibt wechselnde Mittagsmenüs und eine Auswahl an Desserts.
Interview mit Claudia Mäser lesenWir sind durch das Buch „Ein guter Tag hat 100 Punkte“ von Thomas Weber auf das von dir und Axel Steinberger initiierte, gleichnamige Projekt gestoßen. Wie kam es zu dieser Open-Source-Kampagne?
Wir haben das Projekt „Ein guter Tag” vor ca. elf Jahren, als unseren Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise begonnen. Mithilfe einer visuellen Sprache haben wir versucht, das Thema CO2-Äquivalent verständlich darzustellen. Die Komplexität des Themas sollte beibehalten, aber auf ein leicht nachvollziehbares und auch kommunizierbares Instrument übertragen werden. Wir haben eine Datenbank angefangen, bei der wir Product Carbon Footprints aus allen Lebensbereichen in die 100 Punkte umgerechnet haben. Wir sahen das als unseren Beitrag, und Thomas Weber war dann der Erste, der auf das Projekt aufmerksam geworden ist, um es für sein Buch zu nutzen. So hat das Ganze begonnen.
Ihr rechnet die CO2-Äquivalente in Punkte um. Derzeit entsprechen 6,8 kg CO2 100 Punkten. Ist dieses Verhältnis konstant oder kommt es zu Anpassungen?
Die 6,8 kg pro Tag sind nur eine Momentaufnahme auf dem Weg nachParis. Alle paar Jahre wird der Wertangepasst. Im Moment sind 6,8 kg 100 Punkte. Ab Mitte nächsten Jahres sind 5,2 kg 100 Punkte. Das heißt, es bleiben immer 100 Punkte – für die Leute bleibtes immer gleich – aber die Produkte, die gleich viel CO2 emittieren, werden immer teurer. Das Ziel ist, immer die 100 Punkte zu erreichen oder sogar zu unterstreiten.
Du und deine Familie lebt nach dem Prinzip der 100 Punkte. Gibt es einen Bereich, wo es Euch besonders schwer fällt in Maßen zu leben?
Naja, also wir erreichen eigentlich auch keine 100 Punkte. Ich würde sagen wir kommen so auf 130-140 Punkte. Wir leben zu fünft in einer Wohnung, haben kein Auto und achten auf unsere Ernährung - alles kein Problem. Aber meine Frau und ich haben von früher Freunde auf der ganzen Welt. Und wenn zum Beispiel die Taufpatin meiner Tochter, aus Kenia, heiraten würde, dann würden wir schon schwer überlegen, ob wir mal eine Ausnahme machen würden. Und ich weiß das Fliegen furchtbar ist, aber man ist nie perfekt. Man hat immer einen Verbesserungsprozess. Und um das geht es auch in unserem System. Es schreibt einem ja nicht vor, was man tun und lassen soll, sondern es sagt nur, welcher Preis damit verbunden ist. Danach ist es deine Entscheidung. Wo liegen deine Prioritäten. Wie viel gönnst du dir? Und welchen Preis zahlst du dafür?
Ist es in unserer Gesellschaft machbar, die 100 Punkte pro Tag einzuhalten?
Wir haben bemerkt: die 100 Punkte unterschreitet man kaum. In Österreichist der Schnitt bei 450 Punkten. Wenn man hier sehr sparsam lebt, dann kommt man vielleicht auf 130 Punkte, aber viel weniger ist dann eigentlich nicht mehr möglich.Aber genau da setzen wir an. Wir brauchen sehr viele Leute, die selbst aktiv werden und mit unserer App sehen, wo sie stehen. Dann sehen sie, was sie tun können und merken, dass sie alleine es nicht schaffen können. Es braucht auch politische Entscheidungen, die vom Volk eingefordert werden müssen. Wenn die Initiative nicht vom Volk kommt, wird kein Politiker dafür stimmen.
Was sind Faktoren, die helfen einzusparen oder umzudenken?
Ja, ich glaube das ist relativ klar. Wir wissen alle, fliegen ist vorbei. Man kann reisen, man kann überall hingehen, aber nicht ständig im Flieger. Sondern man muss sich die Zeit nehmen. Wir haben drei Kinder, wir wollen auch, dass sie Sprachen lernen, aber uns würde niemals einfallen, für eine Woche nach Irland zu fliegen. Sondern wir brechen unsere Zelte hier ab, fahren mit dem Zug nach Irland und leben dann da ein Jahr lang. So lernen wir auch wirklich das Land und die Kultur kennen und nicht nur die Touristenattraktionen. Auf diese Weise hat man viel mehr vom Reisen. Das ist in vielerlei Hinsicht eine bessere Alternative. Es heißt ja nicht „Ein Tag voll Verzicht hat 100 Punkte”, sondern „Ein guter Taghat 100 Punkte”.
Also geht es nicht um Verzicht, sondern um Mäßigung?
Ja, das ist für uns ganz wichtig. Es geht nicht um Einschränkung. Es geht um einen Qualitätsgewinn. Was für mich gesund ist, ist auch fürs Klima gut. Das geht meistens Hand in Hand. Gesunde Ernährung bedeutet weniger Fleisch und mehr Gemüse – genau das ist auch besser für das Klima. Gesunde Mobilität heißt Fahrradfahren und Laufen – und lustigerweise ist das auch klimafreundlich.
Vorhin hatten wir schon die offensichtlichen Emissionen wie Fliegen oderPKW-Fahren. Aber was sind Sachen, beidenen man gar nicht bemerkt, dass sieviel CO2 verbrauchen?
Ein ausschlaggebender Punkt ist dieWohnfläche pro Kopf - da gibt es auchsehr große Unterschiede. Außerdemspielt in dem Bereich natürlich auchdas Heizen eine Rolle.Das Allerwichtigste ist die Nutzungsdauer von Dingen. Ganz egal, was mankauft. Je länger man es nutzt, destobesser. Das gilt für Häuser, Kleidungoder Möbel, generall für Alles.Wenn man es nicht lange nutzt, dannist auch das beste Öko-T-Shirt oderdas tollste Smartphone, das ökologisch produziert wird, unnötiger Abfall.Das war nicht immer so schlimm. MeineGroßmutter versteht gar nicht, wasdie Lebensdauer von einer Küche odereinem Haus sein soll. Das hält dochewig und ist nichts, was man nacheiner Weile so einfach austauschenmuss. Wenn ich höre, das Haus ist 25 Jahre alt, das muss jetzt weg, dann istdas für mich eine Fehlentwicklung inder Architektur. Dem muss man entgegenwirken.
Seit November 2017 findet man Euch in der Otto-Bauer-Gasse. Aus welcher Motivation heraus ist die Idee einen Unverpacktladen zu eröffnen entstanden?
Wir haben uns viel damit beschäftigt, was jeder Einzelne tun kann um nachhaltiger zu leben und Müll zu reduzieren. Wir wollen im Alltag ansetzen. Der erste Weg ist das Einkaufen im Supermarkt, da das wirklich jeder machen muss. Hier haben wir die Möglichkeit gesehen, zwei Probleme aus der Welt zu schaffen. Auf der einen Seite die unnötigen Verpackungen wegzulassen um weniger Abfall zu produzieren und auf der anderen Seite die Mengen, die man sich einkauft und einlagert zu reduzieren um Lebensmittelverschwendung zu vermeiden. Dieses Bewusstsein wollen wir auch weitergeben. Es muss nicht auf Vorrat eingekauft werden. Wir bieten die Möglichkeit an immer frisch und von der Menge her jenach Bedarf einzukaufen.
Wie hat sich Euer Laden entwickelt? Habt ihr in euer jetzigen Location im 6.Bezirk gestartet?
Wir haben hier gestartet. Als das Konzept mit Supermarkt und zugehöriger Küche stand haben wir uns auf Standortsuche gemacht. Wir haben mehrere Bezirke abgegrast und eigentlich war der 6. und 7. Bezirk nie auf unserem Radar. Die Mietpreise sind deutlich höher im Vergleich zu anderen Bezirken Wiens. Aus Zufall sind wir dann auf das Lokal in der Otto-Bauer Gasse gestoßen, dessen Miete haarscharf an unserer Schmerzensgrenze lag. Wir sind sehr froh über diese Entscheidung, der 6. Bezirk ist ein super Standort.
Wie funktioniert das Unverpackt-Prinzip? Werden alle Produkte ohne Verpackung angeboten?
Nein, nicht alle. Wir haben lose Ware, wie Obst oder Gemüse, und Ware die unsere Kund*innen sich selber abfüllen in mitgebrachtes Geschirr. Zusätzlich bieten wir einige Produkte in Pfandbehältern an. Milch ist unteranderem in Pfandflaschen abgefüllt. Generell ist das Pfandsystem etwas, das wir gerne weiter ausbauen würden. Aktuell ist das aber noch schwierig. Ein Beispiel sind Marmeladen, die würden sich sehr gut in Pfandgläsern anbieten lassen. Momentan hat aber jede*r Anbieter*Inn noch seine eigenen Gläser mit seinem eigenen Design. Es gibt keine einheitlichen Gläser, wie beim Joghurt oder wie bei der Milch. Froh bin ich aber, dass es inzwischen auch in den großen Supermärkten eine Pfandpflicht für gewisse Dinge gibt. Momentan beschränkt sich das noch auf die Getränke aber das ist ein erster Schrittin die richtige Richtung.
Glaubst Ihr, dass auch in regulären Supermärkten Plastikverpackungen irgendwann ersetzt werden? Gibt es eine Zukunft ohne Plastik?
Generell glaube ich nicht, dass ein komplett plastikfreies Leben dauerhaft umsetzbar ist. Plastik ist einfachein Material das auch viele Vorteile hat. Es ist ein langlebiges, vom Gewichther sehr leichtes und einfach herzustellendes Material, das in jegliche Formen gepresst werden kann. Dadurch ist es vielseitig einsetzbar und wird aus unserem Leben wohl nie ganz verschwinden. Ich glaube es kommt vermehrt zu einer Abwandlung des Herstellungsprozesses, weg vom Erdöl zum pflanzlichen „Plastik“. Trotzdem wird ein gewisser Anteil erdölbasierten Plastiks bestehen bleiben, vor allem inder Industrie und in Großgewerben.
Sind unverpackte Lebensmittel weniger lang haltbar als in herkömmlichen Verpackungen? Habt ihr dadurch einen geringeren Spielraum bei der Kalkulation des Wareneinkaufs?
Man hat im Lebensmittelhandel generell einen extrem schmalen Spielraum, was die Ware im Lager angeht. Das musste sich bei uns auch erst einpendeln. Am Anfang haben wir unser Lager zu voll gemacht. Das ist eine Erfahrungssache. Grundsätzlich ist die Ware wenn wir sie offen verkaufen eine Spur weniger lang haltbar als einzeln abgepackt. Bei Trockenwaren, wie Reis oder Linsen fällt das gar nicht ins Gewicht, da sie ein langes Ablaufdatum haben. Unverpackt reduziert sich das Mindesthaltbarkeitsdatum um ein bis zwei Monate. Andere Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Milchprodukte bestellen wir sowieso jede Woche frisch.
Nach welchen Kriterien wählt ihr Eure Produkte aus?
Uns ist es wichtig regionale Produkte anzubieten. Der ersten Schritt ist zuschauen, was es in Österreich gibt. Da merkt man leider oft eine Preisdifferenz. Ein Beispiel sind Linsen oder auch Quinoa, der erst relativ neu in Österreich angepflanzt wird. Hier besteht momentan noch ein großer Preisunterschied zu importiertem Quinoa. Aber auch das wird sich mit der Zeit einpendeln, sobald mehr in Österreich angebaut wird und die Nachfrage steigt. Obst und Gemüsesorten sind bei uns Saisonware. Hier ist es uns wichtig auch Gemüseraritäten ins Sortiment zunehmen, die noch nicht so verbreitetsind. Generell decken wir die ganze Palette an Lebensmitteln ab und bieten auch anderen ökologisch wertvolle Produkte an wie Kosmetika und Reinigungsmittel zum selbst abfüllen.
Woher bezieht ihr euer Sortiment?
Das Kriterium nach dem wir Produzent*innen auswählen ist, was produziere sie, wie produzieren sie und inwelcher Verpackung kommt die Warezu uns. Viele Anbieter*innen haben einen Mindestbestellwert. Das lohnt sich für uns oft nicht. Es kommt auch draufan woher die Ware kommt. Die Produkte vieler Anbieter sind zwar Bio abervom anderen Ende der Welt. Uns ist es wichtig, lange Lieferwege und Import zum Wohl des Klimas zu vermeiden.
Kennt Ihr alle Eure Produzent*innen?
Das ist ganz unterschiedlich. Einen Großteil unseres Sortiments beziehen wir über den Biogroßhandel. Da kennt man die Produzent*innen nicht persönlich, aber wir wissen trotzdem was sie tun und wer sie sind. Wir haben auch Produzent*innen, die uns direkt beliefern. Obst, Gemüse und einiges Andere bekommen wir direkt von mehreren Bäuer*innen geliefert. Jenachdem was sie anbauen und welche Saison gerade ist.
Wie kommt die Ware bei euch an? In welcher Verpackung wird sie geliefert?
Wir bekommen alles in Großgebinden. Diese unterscheiden sich je nach Produkt. Obst und Gemüse bekommen wir von den Bauern in Pfandkisten ganz ohne Verpackung. Die Trockenwaren wird in großen Säcken geliefert. Kaffe kommt in Pfandbehältnissen, die wir umschütten. Generell fällt bei uns nur Karton- und Papiermüll an.
Durch das Unverpacktprinzip spart man Material. Macht sich das, wenn ihr Ware bestellt beim Preis bemerkbar?
Nein, hier geht die Rechnung nicht auf. Nur weil ein Produkt ohne Verpackung geliefert wird, sinkt der Preis nicht. Produzent*innen haben andere Kriterien bei der Preisgestaltung. Die Preisgestaltung für Lebensmittel ist generell ein ziemlicher Dschungel, der sich mir nicht immer ganz erschließt. Bei manchen Lebensmitteln ist es logisch. Ein Bauer, der Linsen anbaut hat mir das sehr gut erklärt. Die geernteten und gereinigten Linsen werden in die Mühle gebracht. Die Mühle muss für jede Linsensorte anders programmiert werden, auf Grund der unterschiedlichen Mahlgrade. Das ist ein Arbeitsaufwand, den viele erst bei einergewissen Menge an zu verarbeitender Ware anbieten. Bei einer Tonne lohnt sich das noch nicht. Nur sehr wenige Mühlen bieten die Verarbeitung vongeringen Mengen an, das spiegelt sich dann natürlich im Preis. Bei anderen Sachen verstehe ich es nicht ganz. Alnatura Produkte von DM sind zu sehr günstigen Preisen erhältlich. Kauft man das gleiche Produkt, nur von einem anderen Hersteller, im Biogroßmarkt ein kostet es fast das Dreifache.
Du sprichst von einer Preisdifferenz bei einigen regionalen Produkten. Schreckt dieser höhere Preis viele ab?
Es gibt verschiedene Kund*innen. Einige nehmen den höheren Preis gerne in Kauf. Durch das Unverpackt-Prinzip ist es zudem möglich nur portionsweise einzukaufen. Bei verhältnismäßig kleinen Mengen fällt der Preis nicht so sehr ins Gewicht. Auf der anderen Seite gibt es aber natürlich auch Kund*innen, die den Preis sehr genau vergleichen und dann eher nicht zu diesen Produkten greifen. Ich würde sagen, das ist recht ausgeglichen.
Wie hat sich die Nachfrage in den letzten Jahren verändert? Habt Ihr das Gefühl, dass immer mehr Wiener*innen bereit sind, sich für nachhaltige Alternativen, abseits der großen Supermärkte, zu entscheiden?
Wenn ihr mir die Frage vor einem Jahr gestellt hättet wäre die Antwort gewesen: „Ja, die Leute sind total begeistert und ich hab das Gefühl, dass es immer mehr wird“. Momentan habe ich das Gefühl, dass die Leute ganz andere Sorgen haben, es hat sich durch die Pandemie extrem viel verändert. Der Grundgedanke sich bewusst zu ernähren ist schon bei den Leuten hängengeblieben aber es ist eine gewisse Müdigkeit da. Es wird geschaut, was einfach und unkompliziert ist. Extrem Viele sind auf Onlinehandel umgestiegen. Auch der Einkauf von Lebensmitteln über Onlineplattformen ist in den letzten Jahren rasant angestiegen. Für den stationären Handel ist es sehr hart, die Leute bei der Stange zu halten. Es ist schwer auf die sich ständig ändernen Lebensbedingungen, die durch einen Lockdown entstehen zu reagieren. Vor allem der Wechsel zwischen Home-Office und dann wieder normalen Arbeitsbedingungen verwirrt die Leute extrem. Das bewirkt, dass Viele momentan nicht die Entspanntheit und die Ruhe haben, neues auszuprobieren. Das war vor einem Jahr noch ganz anders, da war eine Euphorie da Neues auszuprobieren. Seit dem Sommer ist es ganz schwierig.
Modul Integrales Kommunikationsdesign & Visualisierung
Institut Kunst und Gestaltung,
Architektur TU WIEN
Koordination: Otto Mittmannsgruber
Veronika Amann
Lea Bradenbrink
Dóra Komáromi
Caroline Weber
Enrico Bravi
Florian Gruber
Otto Mittmannsgruber
Tobias Schererbauer
Simon Schwaighofer
Anna Soucek