Cornelia Ehmayer-Rosinak ist die Gründerin und Leiterin des Wiener Büros STADTpsychologie. Sie forscht seit vielen Jahren im Bereich der dialogorientierten Stadtentwicklung und hat hierfür das international anerkannte Verfahren Aktivierende Stadtdiagnose entwickelt. Das qualitativ-partizipative Verfahren unterstützt Städte und Gemeinden dabei ihre Stärken und Schwächen ganzheitlich zu analysieren. Die Ergebnisse der Analyse zeigen, wie gut die jeweilige Stadt oder Gemeinde für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet ist. Aufgrund Ihres Spezialwissens und ihrer themenorientierten Auseinandersetzung mit Wien ist sie für uns als Interviewpartnerin sehr bedeutend. Welche Haltungen sie zu den Themen lebenswerte Stadt, alt und unsichtbar hat und wie Wien wachsen wird, können Sie im Folgenden lesen.
Brigitte Redl–Manhartsberger ist seit 2014 Grüne Aktivistin im Bezirk Leopoldstadt und gehört durch ihr Engagement als Architekturvermittlerin zu dem Gründungsteam des Architekturzentrum Wien. Des Weiteren ist sie Grafikkünstlerin und Zeichnerin in Architekturbüros, was ihr einen sehr individuellen Blick auf die Stadt ermöglicht. Politisch liegt ihr der Schutz des baukulturellen Erbes und der Erholungsräume der Leopoldstadt besonders am Herzen. Sie wohnt seit 60 Jahren in Wien und konnte in dieser Zeit die Wandlungen der Stadt miterleben. Durch diese Erfahrung, ihre vielseitige Lebenserfahrung in Bezug auf Wohnsituationen und ihre klare politische Haltung berichtet sie uns von dem alten Wien und ihren Gedanken für die Zukunft. Ihre prägnanten und inspirierenden Erfahrungen können Sie im Folgenden nachlesen.
Cornelia Ehmayer-Rosinak ist die Gründerin und Leiterin des Wiener Büros STADTpsychologie. Sie forscht seit vielen Jahren im Bereich der dialogorientierten Stadtentwicklung und hat hierfür das international anerkannte Verfahren Aktivierende Stadtdiagnose entwickelt. Das qualitativ-partizipative Verfahren unterstützt Städte und Gemeinden dabei ihre Stärken und Schwächen ganzheitlich zu analysieren. Die Ergebnisse der Analyse zeigen, wie gut die jeweilige Stadt oder Gemeinde für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet ist. Aufgrund Ihres Spezialwissens und ihrer themenorientierten Auseinandersetzung mit Wien ist sie für uns als Interviewpartnerin sehr bedeutend. Welche Haltungen sie zu den Themen lebenswerte Stadt, alt und unsichtbar hat und wie Wien wachsen wird, können Sie im Folgenden lesen.
Brigitte Redl–Manhartsberger ist seit 2014 Grüne Aktivistin im Bezirk Leopoldstadt und gehört durch ihr Engagement als Architekturvermittlerin zu dem Gründungsteam des Architekturzentrum Wien. Des Weiteren ist sie Grafikkünstlerin und Zeichnerin in Architekturbüros, was ihr einen sehr individuellen Blick auf die Stadt ermöglicht. Politisch liegt ihr der Schutz des baukulturellen Erbes und der Erholungsräume der Leopoldstadt besonders am Herzen. Sie wohnt seit 60 Jahren in Wien und konnte in dieser Zeit die Wandlungen der Stadt miterleben. Durch diese Erfahrung, ihre vielseitige Lebenserfahrung in Bezug auf Wohnsituationen und ihre klare politische Haltung berichtet sie uns von dem alten Wien und ihren Gedanken für die Zukunft. Ihre prägnanten und inspirierenden Erfahrungen können Sie im Folgenden nachlesen.
Sie sind Gründerin und Leiterin der STADTpsychologie und betrachten Städte als Wesen. Wie beschreiben Sie das Wesen Wien, wie es normalerweise lebt?
Ob eine Stadt normal ist, kann ich schwer beurteilen. In der Psychologie gibt es die Kategorien normal oder unnormal nicht. Sie sind alle ein bisschen neurotisch und wenn es schlecht hergeht, noch neurotischer sozusagen. Ich würde Wien jedoch nicht als neurotisch beschreiben, um das vielleicht abzukürzen. Ich habe 2003 eine Studie zum Wesen Wien gemacht und würde auch heute noch sagen, dass die Studie ihre Gültigkeit behalten hat. Also, dass noch immer die Architektur, die Gründerzeitarchitektur, dominiert. Die Stadt der kurzen Wege birgt eine große Qualität, zumindest im innerstädtischen Bereich. Das ist ein großer Anziehungspunkt, vor allem für Touristen, was sich auch seit 2003 nicht geändert hat. Die Stadt hat sich in vielerlei Hinsicht zum Besseren verändert, beispielsweise bezogen auf den Grünraum oder die Radwege. Was ebenfalls noch zutrifft, ist das sehr typisch Wienerische, dass die Wiener sich selbst viele schlechte Eigenschaften zugeschrieben haben. Die Wiener haben das Granteln und das Zwida-Sein ein bisschen kultiviert. Ich denke, das ist schon etwas typisch Wienerisches, dass man nicht gerne von sich sagt wie super, wie großartig, wie toll man ist, sondern, dass man gerne ein bisschen jammert. Man sagt gerne „Ich bin schlecht drauf“, weil dann hat man auch einen Grund mit-einander zu reden. Dieser Charakter in seiner ganzen Ambivalenz ist wahrscheinlich schon etwas, was das Wesen Wien ausmacht.
Sie sehen den sozialen Zusammenhalt im direkten Bezug zu dem Wesen Wien und den wiederum als Ausgangspunkt für die Lebensqualität einer Stadt. Woran erkennt man diese? Gibt es klare Indikatoren, an denen man Lebensqualität festmachen kann?
Es gibt ja den quantitativen und den qualitativen Zugang. Der psychologische Zugang ist Leute zu fragen, um herauszufinden, ob sie sich wohlfühlen. Wenn ich konkret in einem Grätzl wissen will, ob sich die Leute dort wohlfühlen, dann muss ich sie fragen und dann frage ich sie auch was das Wohlfühlen ausmacht. Aus der Forschung weiß man, dass ein wichtiger Punkt hierbei beispielsweise die Nachbarschaft ist. Das interessante Phänomen ist, dass man diese Menschen gar nicht so gut kennen muss, sich aber dennoch wohler fühlt, wenn man in seiner Nachbarschaft einkaufen geht oder ins Kaffeehaus und dabei auf ein bekanntes Gesicht stößt. Das nennt man den vertrauten Fremden. Ich fühle mich sicherer, weil ich das Gefühl habe, da gibt es eine Gruppe von Menschen, die sehe ich einfach immer wieder. Das ist das Eine, und das Andere sind immer auch die sozialen Beziehungen. Die Tatsache, dass ich in meiner näheren Umgebung nicht nur meine besten Freundinnen und Freunde habe, sondern einfach diese Art Nachbarschaft, wo ich jemanden um Hilfe rufen kann, wenn ich beispielsweise krank bin. Gerade bei älteren Menschen ist das irrsinnig wichtig. Dazu trägt natürlich auch das Grün bei, wozu es auch einen großen Forschungszweig gibt. In der Umweltpsychologie nennt er sich Restorative Environment. Grünraum, die Möglichkeit ins Grüne zu schauen oder zu gehen, Grün in Kombination mit Wasser hat einen sehr starken Erholungswert für Menschen. Es ist eh banal, dass es so eine Sehnsucht nach Grün gibt, aber keine nach Beton. Selbst wenn man vielleicht als junger Mensch vom Land in die Stadt will, weil das Land langweilig ist. Dennoch ist die Ursehnsucht natürlich immer eher nach Natur.
Das schließt an eine Frage an, die wir vorbereitet haben. Wir haben uns verschiedene Statistiken angeschaut, die beschreiben, wo die Menschen in Wien am zufriedensten sind. Zur genaueren Betrachtung haben wir uns zwei Bezirke angesehen und festgestellt, dass die WienerInnen im vierten Bezirk fast so zufrieden sind wie im 21. Jedoch beträgt die Grünfläche pro Person im vierten Bezirk nur 5 m2, was 22-mal weniger ist als in Floridsdorf. Hinzu kommt, dass die Bewohner im vierten Bezirk drei Mal so dicht wohnen. Wie hängt die Zufriedenheit denn vom städtischen Raum ab, besonders bezogen auf den Grünraum? Gibt es eine Abhängigkeit oder beeinflusst der Grünraum die Zufriedenheit der Menschen, die in der unmittelbaren Umgebung wohnen?
Allgemeiner gesprochen gibt es Leute, die nie in die Stadt ziehen wollen, weil sie sagen, es sei ihnen zu dicht. Dann gibt es aber innerhalb der Stadt wieder Menschen, mehrheitlich die Jüngeren, die gerade diese Dichte suchen und damit auch eine gewisse Flexibilität verbinden. Man zieht aber nicht in die Stadt wegen dem Grün, sondern eher ganz bewusst wegen dem Urbanen, weil mir die Stadt etwas bietet, was mir das Land nicht bieten kann. Man hat nicht immer dieselben Personen um sich herum und dadurch eine weniger starke soziale Kontrolle.
Ja, interessant, weil wir auch zu dem Schluss kamen, dass in der dichten Stadt der gut gestaltete Stadtraum die Funktion von Grünraum erfolgreich übernehmen kann, also Bedürfnisse der Bewohner befriedigt. Wenn der Stadtraum gut gestaltet ist, ersetzt er vielleicht teilweise den Grünraum, den es dafür in den Bezirken braucht, die weiter draußen sind.
Ob es den Grünraum ersetzt, weiß ich nicht, aber ich glaube, dass die Menschen mit anderen Bedürfnissen oder Motiven irgendwo hinziehen. Die Stadt bietet ja auch die Möglichkeit, sich nach den Lebensumständen zu verändern. Es muss nicht nur die Umwelt und Natur sein, die eine Umgebung lebenswert macht, sondern auch kulturelle Aktivitäten, wie ein Museumsbesuch.
Wir haben dann die Zufriedenheit in den Bezirken mit dem Anteil an Grünraum verglichen und grob die Tendenz feststellen können, dass die Bewohner dort am zufriedensten sind, wo es entweder sehr viel Grünraum gibt oder sehr dichten, urbanen Stadtraum. Was sehen Sie als gutes Verhältnis zwischen diesem öffentlichen Grünraum, dem urbanen Stadtraum und der dichten Bebauung? Auch im Hinblick auf eine weitere Stadtentwicklung.
Ich finde, das ist schwierig auszudrücken, weil ich glaube, das gute Verhältnis ist das Angebot der Möglichkeiten. Momentan glaube ich, dass die neuen Stadtentwicklungsgebiete sehr gut gestaltet werden, weil sehr viel auf den Grünraum geachtet wird. Was jedoch ein bisschen schwierig ist, ist die Tatsache, dass diese fast ein bisschen austauschbar sind. Ich glaube, das gute Verhältnis ist, wenn eine Stadt einen gewissen Mix bietet. Wien hat die Größe, dass man sich das alles individuell aussuchen kann; auch innerstädtisch im Ring gibt es viele Bäume.
Wien ist die europäische Großstadtregion, die am stärksten wächst. Mit mehr als 4 % lag sie weit über anderen Großstadtregionen. Bei der Prognose gab es auch europäische Hauptstädte, denen kein Wachstum prognostiziert wird. Daher ist es sehr spannend, wie Wien mit dem Wachstum und dem Erhalt der Lebensqualität umgehen wird. Welche stadtpolitische Veränderung würden Sie vornehmen, wenn Sie die Entscheidungsfreiheit hätten? Wie sieht Ihr Wien der Zukunft aus?
Stadtpolitisch würde ich die Diskurse zu Veränderungen stärken. Ich würde wahnsinnig gerne in der Stadthalle eine große politische Veranstaltung machen, bei der alle Leute einen Diskurs führen. So etwas gab es in Amerika unter America speaks, mit tausenden Menschen. Das würde ich gerne in Wien machen. Dann würde man sehen was herauskommt und was den Leuten wichtig ist. Auf der Grundlage dessen könnte man dann auch Planungen machen.
Im inneren Stadtkern gibt es keine Altersheime, somit werden die älteren Menschen auf eine Art in die Außengebiete verdrängt. Dies führte uns zu der These, dass man als alter Mensch in Wien unsichtbar ist. Wie würden Sie das bewerten?
Da möchte ich eine Gegenthese aufstellen. Im 5. Bezirk gibt es innerstädtisch ein ziemlich großes Pensionisten-Wohnhaus, das Haus Margareten. Das ist sehr zentral. Als die Pensionisten Wohnhäuser gebaut wurden, war die Innenstadt einfach schon dicht, wodurch man nach außen gewandert ist. Grundsätzlich ist es so, dass man im Alter immer ein bisschen verschwindet, weil man gebrechlicher wird und somit nicht mehr so viel im öffentlichen Raum ist. Aber gerade für das ist doch die Stadt, die innere Stadt und der urbane Raum perfekt. Bei der 15-Minuten-Stadt kannst du lange ein selbstständiges Leben führen, selbstbestimmte Mobilität genießen und auch Dinge deines Alltags ohne weite Wege erledigen. Das ist eine wichtige Quelle des Lebens, weil man sich eigentlich zu Fuß noch enger bewegt. Dennoch glaube ich, dass die inneren Bezirke jünger sind im Vergleich zu den äußeren. Es ist somit nicht ganz falsch, was ihr da sagt, aber grundsätzlich ist gerade Wien, finde ich, noch immer stark eine Stadt der Alten oder Älteren. Aber nicht der ganz Alten vielleicht.
Das würde auch für die 15-Minuten-Städte oder Grätzl sprechen, die eher dezentrale Stadtstrukturen mit lauter kleinen Vierteln und gemixten Nutzungen haben.
Aber es braucht auch eine gewisse Dichte und das spießt sich noch ein bisschen, weil die Vorgaben jetzt auch ganz klar die Funktionalität implizieren. Im Gegensatz zu Berlin kann man in Wien schneller Strecken bewältigen. Wege, für die ich in Wien eine dreiviertel Stunde zu Fuß brauche, dauern in Berlin zwei Stunden die Dimensionen sind vollkommen anders. Wien ist wirklich, zumindest innerstädtisch, sehr dicht und gut erreichbar.
Ja, der Unterschied ist halt, dass Berlin kein richtiges Zentrum hat, sondern viele kleine Zentren, die sehr unabhängig voneinander sind. In Wien ist alles dichter beieinander. Das ist sehr angenehm, macht aber auch den Unterschied aus, dass Wien oft ruhiger wirkt und Berlin rauer und pulsierender.
Typische Schlagworte, die oft im Zusammenhang mit Städten fallen sind: density, walkable city, human scale, mixed-use scenarios. Das sind eigentlich Begriffe, die sehr für eine autofreie Stadt sprechen und an die Städte von Anfang des 20. Jahrhunderts erinnern. Gehen wir wieder zurück zu dem alten Vorbild einer Stadt?
Der Mensch verändert sich nicht groß, trotz der stetigen Änderungen in den Technologien. Die Menschen haben nicht so große Varianten. Dadurch gibt es auch viele Gemeinsamkeiten. Jeder will eine gewisse Form von Nähe, Überschaubarkeit und Vertrautheit haben. Man kämpft immer mit der Ungewissheit der Zukunft, die auch immer ein bisschen Angst macht! Andererseits muss ich sagen, dass einem manchmal dieses Human Scale auf die Nerven geht. Es muss alles so lieb, brav, überschaubar, klein, nett sein, was irrsinnig konservativ ist. Dabei finde ich, dass es schon die Ausreißer braucht! Wir brauchen auch unsere Brüche! Trotz allem suchen wir nach Sicherheit und nach Gleichheit. In der Psychologie gibt es die Gleichheit in der Verschiedenheit (in der Umweltpsychologie nennt sich das Ordnung in der Vielfalt). Zum Beispiel: Die Leute mögen so gerne Gründerzeitarchitektur, weil die Fassaden sich wiederholen. Sie mögen Vertrautes und auch ein bisschen Abweichungen. Ich bin damit nicht einverstanden, dass eine Stadt nur noch das bietet und ist. Das wäre mir zu wenig. Eine Stadt sollte so haushalten, dass alles in unterschiedlichster Form stattfinden darf!
Ja, es sind auch die Plätze in der Stadt, die irgendwie wild sind und plötzlich viel Potenzial bieten, weil die Menschen hingehen und anfangen sie zu gestalten. Das passiert eher weniger, wenn alles glatt und geschniegelt ist! Das passt auch zu Ihrer These, dass man etwas zu reden hat und Verbundenheit spürt, wenn nicht alles perfekt ist.
Wir haben uns die Zahlen angeschaut, wie Wien in den nächsten Jahren wachsen wird: Im Jahr 2044 wird fast wieder die Bevölkerungsanzahl von 1916 erreicht sein. 1916 hatte die Stadt 2,2 Millionen Einwohner. Das waren nochmal deutlich mehr als heute, was sehr interessant ist. Welche Herausforderungen sehen Sie für Wien?
Also, ich glaube, dass Wien recht gut vorbereitet ist. Die Planung hat sich schon lange damit beschäftigt. Wien hatte 1916 mit Sicherheit heftige Probleme mit der hohen Einwohnerzahl beim Wohnen angefangen, politisch brauchen wir gar nicht drüber reden. Aber ich glaube, dass Wien heute gut vorbereitet ist. Die Herausforderungen sind die Grenzen! Also die Grenzen: Wie weit will man noch wachsen? Wann möchte man aufhören zu wachsen? Wie geht man damit um? Das ist ja auch das, was viele Bürger initiativen aufzeigen, dass so eine Art Limit erreicht ist und man nicht noch größer werden will. Ich glaube, es fängt schon an zu kippen. So wie Wien angelegt ist und wie Wien ist, würde ich sagen, dass die Grenze erreicht ist!
Als letzte Frage möchten wir Ihnen eine Frage stellen, die wir Ihrer Website entnommen haben: „Wenn es um die Zukunft Ihrer Stadt geht, was möchten Sie uns mitteilen?“
Ich würde mir für die Zukunft von Wien wünschen, dass das erhalten bleibt, was gut ist, denn Wien ist eine soziale Stadt. Dazu gehört für mich die gute Luft, das gute Wasser und diese gute soziale Durchmischung.
Sie kommen ursprünglich gar nicht aus Wien, sondern sind in Innsbruck geboren. Wann sind Sie denn nach Wien gekommen und wieso haben Sie sich damals für Wien entschieden?
Ich bin 1960 nach Wien gekommen. Nach dem Abschluss der Kunstgewerbeschule in Innsbruck war es traditionell üblich zum weiterführenden Studium nach Wien zu gehen. Entweder an die Angewandte (damals Hochschule für angewandte Kunst Wien) oder zum Schillerplatz (Akademie der bildenden Künste). Ich habe also eine sehr lange Wiener Laufbahn hinter mir.
Wie hat sich Wien in den Jahren, in denen Sie nun schon hier wohnen, verändert?
Wien hat sich mehrfach verändert. Als ich nach Wien gekommen bin, war der Nachschlepp der Nachkriegszeit. Es war einerseits eher düster, andererseits war es aber auch viel authentischer als jetzt. Es war dunkel, es war nichts gewaschen, es war kein Disneyland, es war eher alt. Die Überalterung war ziemlich spürbar.
Alt in Bezug auf die Architektur oder die Menschen?
In der Architektur war mit einzelnen Ausnahmen die Wiederaufbauarchitektur im Gange. Aber als ich gekommen bin, war gerade diese Nachkriegsavantgarde zu Ende, also Artmanns Wiener Gruppe. Nach meiner Studienzeit kamen dann schon die 1968er Jahre; das davor war somit eine Zwischenzeit, in der eine Stagnation in Wien geherrscht hat. Es war, wie man so schön sagt, ein bissel verkrustet; es war dieser Traditionalismus, der in Wien sowieso ziemlich heftig ist und damals noch heftiger. Was dennoch deutlich besser war, war die Beisl-Kultur. Es hat hunderte Beisln gegeben, jeder hat praktisch sein eigenes gehabt. Jeder hat sein eigenes Kaffeehaus gehabt, als Zweitadresse. Abends wurde es leider ziemlich ruhig in der Stadt, weil um 23 Uhr Sperrstunde war; nur hat es eben ein Dutzend Lokale gegeben, in die man als Studentin, als Frau, auch alleine hingehen konnte und gewusst hat, da trifft sich die vertraute, nachtaktive Gesellschaft. Gewohnt haben die meisten in Untermietzimmern, was teilweise echt lustig war. Die Untermietzimmer in den Gründerzeitwohnungen waren auch relativ groß. Man hatte so ein abwechslungsreiches Leben von Untermietzimmer zu Untermietzimmer. Es gab viele Gründerzeitwohnungen, die teilweise leer standen oder nur von einer alten Person bewohnt waren; die konnte man adaptieren. Es entstanden legendäre Wohngemeinschaften wie die Mühl-Kommune im Nestroyhof oder die Künstler-WGs in der Zieglergasse. Wien ist jünger geworden, an den Universitäten gab es Aufstände gegen die autoritären Strukturen. Da hat sich schon einiges getan, auch in der Architektur. Wien ist zu der Zeit auch internationaler geworden. Trotz dieser zunehmenden Lebendigkeit war Wien, aufgrund der geopolitischen Lage an der Grenze zum Ostblock, eine schrumpfende Stadt, was einen Leerstand von Altbauwohnungen bedingte. Die Jugend ist zu dieser Zeit öffentlich in Erscheinung getreten, man hat Parks und Häuser besetzt. Die nächste Änderung war dann die Öffnung der Grenzen zu den östlichen Nachbarländern Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien und der Fall der Berliner Mauer. Wien hat sich von einer schrumpfenden zu einer wachsenden Stadt entwickelt. Das hat im Wohnbau natürlich viel verändert. Da sind dann ganze Stadtteile wie Leberberg entstanden. Durch die EU-Mitgliedschaft kommen auch heute sehr viel Menschen aus Bulgarien, Rumänien und weiteren Ländern. Die bringen natürlich auch eine Vitalität und manchmal auch Freundlichkeit mit, die Wien ganz gut tut, denke ich.
Sehr interessant, weil Wien ja stetig weiter wächst und in einigen Jahren die 2-Millionen-Grenze überschreiten wird. Was meinen Sie, welche Herausforderungen werden dadurch auf Wien zukommen?
Man muss anfangen die Bodenressourcen anders zu behandeln, als in der Vergangenheit. Eine Idee ist, dass ein Grundstück nicht mehr verkauft wird, sondern nur das Recht darauf zu bauen. Also, dass man Baurecht verkauft und nicht Grundrecht. Damit die Stadt bzw. die Kommune in der Zukunft noch Bodenressourcen zur Verfügung hat. Die Ressourcen sind irgendwann einmal aufgebraucht. Und das Zweite ist: Wien ist von Niederösterreich umgeben und hier muss sich die Infrastruktur verbessern. Es ist eine Frage der Raumplanung, eine günstigere Situation zwischen den beiden herzustellen, damit durch den Speckgürtel kein permanentes Pendlertum zu den Einfamilienhäusern verursacht wird.
Wien wurde in unterschiedlichsten Studien zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt. In Bezug auf das aktuelle Wachstum wüssten wir gerne von Ihnen: Ab welcher Größe der Bevölkerung ist für Sie die Wachstumsgrenze Wiens erreicht und ab wann ist dann die Stadt nicht mehr lebenswert?
Die Zahl ist schon längst erreicht! Es kommt ja nicht auf die genaue Anzahl an; es ist halt mit vielen Menschen vielleicht ein bisschen ungemütlicher, aber man muss daran arbeiten, dass die Politik der Stadtentwicklung so betrieben wird, dass die Ressourcen nicht aufgebraucht werden können. Hier hat der Investorendruck eine Größenordnung erreicht, die das Stadtbild zerstört und zu sozialen Verwerfungen führt. Es geht nur mehr um maximale Renditen, ein Rundum-Sorglos-Paket für Anleger und Pensionsfonds.
In welchem Bezirk wohnen Sie und wie beschreiben Sie ihn?
Ich wohne in der Donaustadt, genauer Donau City. Die Geschichte der Donau City hängt mit der, per Volksabstimmung verhinderten, Weltausstellung zusammen. Nachdem schon eine Überplattung über die Donauufer Autobahn geplant war, wurde daran festgehalten. Diese Überdeckung wurde Fundament für eine künftige Bebauung. Der Verkehr wird auf der untersten Ebene 3 abgewickelt. Ebene 2 dient der Infrastruktur, die Nullebene ist ausschließlich FußgängerInnen und RadfahrerInnen vorbehalten, was eine große Qualität ist. Die Wohnbebauung wurde als geförderter Wohnbau abgewickelt, da man anfangs nicht sicher war, ob man Menschen über die Donau kriegt. Auch so eine magische Grenze in Wien. Der Plan ist dann doch aufgegangen. Jetzt verkauft man hier Eigentumswohnungen zu Höchstpreisen. Ich wohne zum Glück in einem sehr privilegierten Teil der Platte und schaue direkt auf die Donau und das Stadtpanorama. Am Anfang war das Leben hier trotzdem problematisch, weil der Bereich der Donau City nahe der U1-Station ausschließlich der Büronutzung vorbehalten war und der entferntere Teil erst dem Wohnen.
Haben Sie schon immer in der Donaustadt gewohnt oder auch in anderen Bezirken? Hatten Sie spezifische Auswahlfaktoren bei der Standortsuche in Bezug auf die Wohnung und Umgebung?
Nein, in meiner ganzen Wien-Zeit hatte ich verschiedenste Wohnsituationen, von Souterrain bis oberster Stock war alles dabei. Die jeweilige Lebenssituation ist natürlich wichtig, ob man Kinder hat oder, ob man sich im Studium befindet etc. Für mich war aber immer die relative Nähe zu einer U-Bahn-Station wichtig. Ich bin schon immer viel mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, deshalb spielt es natürlich eine Rolle, dass ich alles damit schnell erreichen kann. Es war mir immer ganz wichtig, dass ich mobil bin und meine sozialen und kulturellen Kontakte gut erreiche. Es war damals nicht wie heute in den sogenannten Bobo-Bezirken. Bei den meisten Wohnungen, die ich hatte, war in unmittelbarer Nähe ein Kaffeehaus. Das war für mich immer ganz wichtig. Es war für mich früher auch wichtiger, dass ich die Orte fußläufig erreichen konnte, weil ja um 22 oder 23 Uhr keine Verkehrsmittel mehr fuhren. Das war lange Zeit ein großes Thema, dass man fußläufig nach Hause kommt, um länger in den Kaffeehäusern zu bleiben. Das würde ich mir jetzt zwar auch wünschen, aber das ist in der Donau City nicht mehr gegeben. Dafür hat meine Wohnung dort eine ganz andere Qualität, die hatte ich sonst noch nie in Wien. Das ist direktes Sonnenlicht, also eine lichtdurchflutete Wohnung.
Wir haben wir uns die Frage gestellt, ob öffentlicher Raum wichtiger ist als Wohnraum. Wie bewerten Sie diese Frage?
Das ist eine schwierige Frage, denn die Wohnung hört nicht bei der Wohnungstür auf. Der Raum drumherum ist natürlich sehr wichtig und ich kann nicht sagen, was wichtiger ist. Ich hätte nicht gern eine Wohnung, in der man die Arme nicht ausstrecken kann. Momentan geht ja die Tendenz zu diesen Smart-Wohnungen, wo man als Kompensation für Wohnraum gemeinschaftlichen öffentlichen Raum anbietet. Der Mensch braucht seine Rückzugsmöglichkeiten und Stauraum!
Im ersten Bezirk haben die Menschen durchschnittlich 55 m2 Wohnnutzfläche zur Verfügung, im Zehnten im Gegensatz dazu nur 31 m2. Was glauben Sie, wie viele Quadratmeter Wohnfläche benötigt ein Mensch tatsächlich, um sich wohl fühlen zu können?
Also ich glaube, die Zahl sagt da gar nichts aus. Die meisten Leute, die ich kenne, die im ersten Bezirk wohnen, haben ziemlich große Wohnungen. Ich habe auch mal im ersten Bezirk mit Kind und Mann auf 40 m2 gelebt. Das ist so eng, da fängt man an zu versuchen verschiedene Nutzungen zu koppeln, wie Bad mit Küche oder Wohnzimmer mit Kinderzimmer. Für mich persönlich wäre eine Wohnung mit 50 m2 schon okay, obwohl ich einige Male auf engerem Raum gelebt habe.
Welcher Bezirk ist ihr Favorit?
Mein Lieblingsbezirk war und ist es in gewisser Weise noch immer, die Leopoldstadt, also der zweite Bezirk. Als ich nach Wien gekommen bin, wollte ich mich nicht zu Hause fühlen. Dieses Feeling, „Jetzt bin i dahoam“, habe ich nicht angestrebt. Aber als wir dann als Familie mit zwei Kindern in der Leopoldstadt waren, hat es sich von selbst eingestellt. Zu der Zeit war die Leopoldstadt noch immer keine Adresse, das war sehr eigenartig. Aber es hat tolle Wohnungen gegeben!
Sie setzen sich dafür ein, dass die Vielfalt der Leopoldstadt nicht zerstört wird und betiteln sie als den urbansten Bezirk. Wie definieren Sie die Vielfalt in diesem Zusammenhang?
Es gibt keinen Bezirk, der so viele Viertel hat wie die Leopoldstadt. Die Leopoldstadt war ursprünglich von Donauarmen durchzogen und weist noch heute besonders viele Grün- und Wasserflächen auf. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte der Bezirk immer den höchsten Anteil an jüdischer Bevölkerung, daher die Bezeichnung Mazzesinsel. Das hat besonders im 19. Jahrhundert viel zum Erblühen einer internationalen Urbanität des Bezirkes beigetragen, wodurch beispielsweise Theater, Tanzhallen, Kaffeehäuser entstanden sind.
Mit dem Einmarsch der Hitlertruppen im März 1938 fand diese Blütezeit ihr Ende und die Juden der Leopoldstadt wurden deportiert und ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte die Leopoldstadt zum sowjetischen Sektor. Das ist auch ein Teil der Vielfalt, denn die kommunistische Community war noch lange in den 1960er Jahren präsent. Die Leopoldstadt war und ist vielfältig rot, aber beim Volksstimme-Fest auf der Jesuitenwiese im Prater treffen sich alle, inklusive der Grünen, welche nun auch zur Vielfalt beitragen.
Die Belebung des Donaukanals hat auch zur Belebung der angrenzenden Viertel geführt. Die Zunahme des Radfahrens gibt dem Transit-Charakter des Bezirks neuen Auftrieb. Die Nähe zur Innenstadt und zur Universität für angewandte Kunst hat zu einem Ansiedeln von Galerien geführt. Die unmittelbare Nähe zur City fördert die Spekulation und treibt die Mietpreise in die Höhe. Rund um die Märkte kommt es zur Gentrifizierung. Aber noch immer finden die depravierten Randgruppen rund um den Praterstern Platz. Was um den Praterstern baulich passiert, das ist die reinste Katastrophe. Es gibt also viel zu beklagen, aber noch ist es für große Teile der Bevölkerung hier besonders urban. Noch leben hier die verschiedensten Bevölkerungsschichten. Die Leute sind weniger so auf urgemütlich, sondern schon ein bissel lockerer und freier, weltoffener, so kommt es mir vor. Ich finde, dass die Leopoldstadt einfach immer noch so robust ist, dass man sie nicht ganz zerstören kann.
Ich habe Ende der 1970er Jahre in der Leopoldstadt gewohnt, da war‘s noch keine Adresse und noch sehr dunkel. Es gibt den Spruch „Wenn Häuser reden könnten“ dann hätten die Häuser in der Leopoldstadt geschrien. Das ist jetzt natürlich weggeglättet. Obwohl ich so viel herumgezogen bin und sich so viel verändert hat, stehen alle Häuser noch, in denen ich gewohnt habe. Nur halt das Drumherum, die Kaffeehäuser usw. sind vielfach verschwunden. Trotzdem fühlt es sich sonderbar an, dass nach so langer Zeit die Häuser noch immer stehen und oft nicht einmal die Dachböden ausgebaut wurden.
Aber das wird ja gerade in Angriff genommen, der Ausbau der ganzen Dachgeschosse.
Ja, es ist eigenartig. Eine Zeit lang hat man gehofft, dass es nicht so wild werden wird mit den Ausbauten. Bei einem Dachbodenausbau muss man schon tief runter in die Basis gehen. Das ist teilweise schwer möglich, wie im ersten Bezirk, der großflächig unterkellert ist, oder in Bereichen, die nahe an der Donau liegen. Aber vermutlich gibt es schon wieder neue Techniken, mit denen man statisch tiefer gehen kann.
Zum Schluss: Können Sie Wien in einem Wort beschreiben?
Ich sag einmal so, wenn man durch Wien geht, hat man das Gefühl, die Touristen arbeiten und die Wiener machen sich den Spaß. Wien ist zwar eine Scheibe aber eine doppelbödige, wie man so schön sagt. Alles ist immer auch anders gemeint.